Im Interview: Sidney Lumet:Die Familie ist ein schrecklicher Ort

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Regisseur Sidney Lumet spricht über unangenehme Leute, irrwitzige Gagen und seinen neuen Film "Tödliche Entscheidung - Before The Devil Knows You're Dead".

Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler

Fünfzig Jahre ist Sidney Lumet inzwischen im Filmgeschäft, 1957 hat er angefangen mit den "12 Angry Men", dem legendären Geschworenen-Kammerspiel. Seinen nächsten Film würde er gern noch vor diesem Sommer drehen - damit ihm nicht irgendeiner der vermaledeiten Hollywoodstreiks in die Quere kommt.

SZ: Dieser ungewöhnliche, ungewöhnlich irritierende und doch zugkräftige Titel "Before the Devil Knows Your're Dead" - ist das wirklich ein alter Spruch, oder haben Sie den nicht doch erfunden?

Sidney Lumet: Nichts da, das ist ein alter irischer Spruch, ein Trinkspruch genauer gesagt. Den gibt es wirklich, er war einfach da - und wartete, dass man ihn nutzte . . . Es ist ein wunderbarer Spruch, nicht wahr? Richtig gemein . . . Sonst geht es eher sentimental zu in Filmtiteln. Der ist hübsch und zynisch.

SZ: Gleich nach dem Titel kommt dann der nächste Hammer, eine, für einen Lumetfilm, sehr heiße Sexszene mit Philip Seymour Hoffman und Marisa Tomei . . .

Lumet: Ja, das ist wirklich ein wenig unerwartet. Ich verwende eigentlich sehr selten Sexszenen in meinen Filmen. Ich finde sie einfach nicht glaubwürdig. Aber diese war schon eindrucksvoll. Die Leute, von denen hier erzählt wird, sind doch ziemlich unangenehm - auch das gefällt mir sehr gut. Und wenn man mit solchen Gestalten zu tun hat, ist es wichtig, dass man weiß, was diese Leute wollen. Das ist der Punkt bei Philip Seymour Hoffman - dass er sexuell nur frei ist, wenn er von allem weg ist. Er muss dieses Gefühl der Entspannung haben, und es ist nicht leicht dies herzukriegen . . . Man sieht den Unterschied in den zwei Sexszenen, die eine daheim in New York und die andere am Anfang, wenn er mit seiner Frau in Rio ist. Und was er natürlich ebenso dringend braucht, ist sein Dope, nur damit schafft er es, sich zu artikulieren. Wenn er sonst spricht, dann in einer Pose, oder um etwas von jemand zu kriegen. Aber dann kommt er in das Haus seines Dealers, und nachdem er seinen Stoff gekriegt hat, sitzt er im Sessel und spricht. Die längste Rede, die er im ganzen Film hat. Und er redet und redet, und man kriegt einen genauen Eindruck von seinem tiefen Bedürfnis.

SZ: Über derart unangenehme, absonderliche, perverse Leute haben Sie schon oft erzählt - ist das eine persönliche Vorliebe oder ist Amerika voll von ihnen?

Lumet: Beides trifft wohl zu. Sie wissen, die Studios sagen immer, wir brauchen Figuren, mit denen man sich identifizieren kann. Ich weiß allerdings nicht, was das bedeutet. Einer der Glücksfälle des Kinos, für den ich immer dankbar sein werde, sind Jonathan Demme und sein "Schweigen der Lämmer". Die beiden Helden sind hier ein Kannibale und ein Mädchen, das nicht weiß, wo es lang geht. Und sie sind nicht nur die Hauptfiguren, sondern wir haben eindeutige Hinweise, dass es eine romantische Beziehung zwischen ihnen gibt. Und wir wünschen uns doch, dass es klappen möge . . . Sieht das nicht aus, als wären wir damit das normale Klischee ein für alle mal los?

SZ: Ist die kaputte Familie schuld an der Krise der Beziehungen heutzutage?

Lumet: Ja, die Familie, das ist ein schrecklicher Ort unserer Gesellschaft . . . Aber sie reden ja immerhin noch miteinander. In diesem Film ist eben alles verschärft, akzentuiert, auf die Spitze getrieben. Das ist es ja, was das Melodram ausmacht. Verschärfte Wirklichkeit, bis knapp an den Punkt, wo man es beinah nicht glauben möchte. Aber dann doch immer glaubt, ein bisschen zumindest.

SZ: War das nicht schwer, einen Film mit so trister Stimmung und einer so komplexen Erzählstruktur durchzusetzen?

Lumet: Überhaupt nicht - weil es privates Geld war, kein Studiogeld. Alles was man da braucht, ist eine Besetzung, die stark genug ist, andere Länder ins Spiel zu bringen. Ein paar hunderttausend von Spanien, ein paar hunderttausend von Italien. Unsere Studios verändern sich mit enormer Geschwindigkeit. Die Studiobosse meiner Generation sind ausgestorben, sie haben sich zurückgezogen. Da bin ich froh, dass ich in New York geblieben bin.

SZ: Auch das Starsystem hat sich stark verändert . . .

Lumet: Naja, es ändert sich und bleibt doch auch gleich. Einerseits sind die Gagen für die Stars inzwischen irrwitzig hoch. Wenn man einen Film mit Brad Pitt machen will, ist man schnell in der Vierzig-Millionen-Dollar-Kategorie - er kriegt halt zwanzig davon. Aber die meisten Stars sind sehr generös, wenn sie ein Script haben, das ihnen gefällt. Dann versuchen sie die Produktion möglich zu machen, indem sie eine prozentuale Beteiligung akzeptieren statt fester Gagen. Und wir haben einfach gute Schauspieler unter den Stars. Brad Pitt ist toll, George Clooney oder Matt Damon. Nic Cage macht exzentrische Sachen. Nicht so wie, ich will den Namen jetzt nicht nennen, dieser französische Gangsterdarsteller, der so steif und hölzern ist.

SZ: Bei "Devil" haben erstmals mit High-Definition-Kameras gearbeitet.

Lumet: Ich entdeckte es vor fünf Jahren, bei einer Sony-Demonstration. Und als ich dann für eine Fernsehserie arbeitete, "100 Centre Street", merkte ich, was man damit alles machen kann. Ich für mein Teil bin nicht mehr interessiert an Filmmaterial. Ich finde HD sehr viel befreiender, unglaublich kreativ. Ich denke, in fünf Jahren wird es vorbei sein mit dem klassischen Kino. Klar, es gab hundert Jahre großartige Filmphotographie. Aber man kann das alles auch auf HD kriegen. Und man braucht weniger Licht, es ist leichter, mehrere Kameras gleichzeitig zu benutzen - so wie wir es in meinen frühen Fernsehtagen gemacht haben, als wir live drehten. Die Farbbestimmung zum Beispiel, auf Filmmaterial ist das ein qualvoller Prozess, manchmal brauchte es sechs, sieben Versuche - und sehr riskant, alles am Originalnegativ. Mit HD sagt man zum Techniker: Also das war so ein Sonnenbrandtag, als wir das drehten, die Haut sieht schrecklich rot aus - schon nimmt er was raus, nur aus dem Gesicht. Man kann die Farbkorrekturen in eineinhalb Tagen machen.

SZ: Gewöhnlich sind "Heist"-Filme ja eher lässige Komödien. Ihr "Devil" ist dagegen ein düsteres Genrestück, fast wie eine antike Tragödie . . .

Lumet: Ja, der Film ist sehr dunkel, sehr pessimistisch. Und dennoch ist er nicht depressiv. Vielleicht kommt das daher, dass die Leute hundertprozentig sie selbst sind. Es werden keine Entschuldigungen geliefert für ihr Verhalten. Wir versuchen sie nicht zu erklären, appellieren an die Intelligenz des Zuschauers: Ihr könnt es euch selbst ausfüllen. Man muss euch nicht zeigen, wie er als Kind war.

© SZ vom 10.4.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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